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Vom Kriegsverbrecherkind zum angeblichen Stasi-Spitzel
oder mein Leben in Deutschland Ost und West

Bücher - Kriegskinder  

9 Monate vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges

wurde ich in Dallgow-Döberitz geboren. Der Vater war Verkehrspolizist in Berlin-Spandau, keine 10 Kilometer vom Wohnort entfernt. Bei Kriegsausbruch wurden große Teile der Polizei eingezogen. Vater kam nach Norwegen. Erinnerungen an meinen Vater habe ich nur wenig. Wie denn auch? Ich kannte ihn nur aus Erzählungen meiner Mutter. Und wenn er einmal für einige Tage auf Urlaub nach Hause kam, dann fand er mich schlafend im Bettchen vor. Ich war noch viel zu klein. Gut ein Jahr später kam mein Bruder zur Welt und im Sommer 1944 mein zweiter Bruder. Da waren wir schon bei den Großeltern in Groß Ellguth in Schlesien, einem kleinen Dorf irgendwo in der Nähe von Breslau. Dort kam ich mit 5 Jahren in die Schule.

Noch bevor die Vertreibung aus Schlesien begann, kehrten wir nach Dallgow zurück. Wir waren Kriegskinder, was heute kaum noch jemand nachvollziehen kann! Man muß es selbst erlebt haben. Wir sangen

Maikäfer flieg!
Dein Vater ist im Krieg
Mutter ist in Pommerland
Pommerland ist abgebrannt
Maikäfer flieg!

Wir hörten die Bomben fallen und erlebten den Tagesangriff auf den Verschiebebahnhof Wustermark, der nur knapp 2 Kilometer entfernt war. Nach dem Angriff durchsuchten wir die Trümmer. In einem zerfetzten Eisenbahnwaggon fanden wir auf Pappröhrchen gewickelte Wolle. Obwohl die piekste, nahmen wir mit, was wir tragen konnten. Oma freute sich königlich über das unverhoffte Wolleglück. Sie fing sogleich an, für uns Pullover zu stricken. Die waren sehr warm. Wir konnten sie aber nur einmal anziehen. Die Wolle war nämlich keine richtige Wolle. Es war feinste Glaswolle! Wie sie mit der stricken konnte, ist mir noch heute ein Rätsel. Den schwieligen Arbeitshänden konnten die kleinen Piekser wohl nichts anhaben.

Vater kam aus Norwegen nicht zurück. Er geriet in englische Gefangenschaft und nach einem Gefangenenaustausch in russische Gefangenschaft. Es gab keinerlei Kontakt zu ihm. 1952 kehrte er zurück, aber nicht nach Hause, sondern in das KZ Bautzen. Dazu später.

Mutter war mit uns 3 kleinen Buben allein, allein in der Ostzone. Die einzige Hilfe war die Oma, die auf uns 3 Kinder Obacht geben konnte. Mutter ging zur Gemeinde und bat um Hilfe für ihre 3 Kinder. Stunden später kam sie völlig verheult und entnervt nach Hause zurück. Man hatte ihre Bitte um Unterstützung nicht nur schlichtweg abgelehnt, sondern ihr vorgeworfen:

"Für Kriegsverbrecherkinder gibt es keine Unterstützung!"

Aber von irgend etwas mußte die 5-köpfige Familie schließlich leben. Mutter war von Beruf Schneiderin. Und eine Nähmaschine gab es natürlich bei einer Schneiderin auch im Haus. Das war eine alte, schon betagte Singer-Nähmaschine. Die sicherte von nun an unser Auskommen, mehr schlecht als recht.

Dallgow-Döberitz hatte schon seit des Kaisers Zeiten einen riesigen Truppenübungsplatz. Und den hatten nun die Sowjets in Beschlag genommen. Tausende russische Soldaten übten fortan auf diesem Gelände. Und ausgerechnet die sorgten in der schlimmsten Zeit für unser Auskommen. Um Millionen russische Soldaten im Krieg einzukleiden, mußten deren Uniformen äußerst spartanisch sein. Meistens sahen die Mäntel aus wie umgehängte dicke Wolldecken. Aber um die Mäntel ging es nicht. Viel interessanter waren die Jacken und Kittel und vor allen Dingen die Hemden. Die hatten allesamt keine Taschen. In unserem kleinen Einfamilienhäuschen waren russische Offiziere einquartiert worden. Denen ging es ähnlich. Die Offiziere wollten von Muttern Brusttaschen auf ihre Hemden genäht haben. Das hatten sie bei den Deutschen gesehen. Aber es gab ein gravierendes Problem. Und das hieß "kein Stoff".

Aber Mutter war einfallsreich und löste das Problem auf ihre Weise:

Sie schnitt aus den Hemden einfach das untere Rückenteil heraus, jedenfalls so viel, daß es für mindestens zwei Taschen reichte, obwohl nur eine angenäht wurde. Als Ersatz für das fehlende Rückenteil mußten die Offiziere irgendeinen Stoff mitbringen. Den besorgten sie sich aus Bettlaken. Dieser Taschennnähdienst sprach sich wie ein Lauffeuer im Lager der Besatzer rum. Kamen zu Beginn nur die Offiziere, waren bald auch die Muschkoten in Scharen da.

Die Nähstube war im oberen Stockwerk. Saßen anfangs 15 bis 20 "Kunden" vor der Nähstube auf der Treppe, so reichte die Schlange später schon bis an das Gartentor. Ich habe immer gestaunt, wie geduldig sie warten konnten, jedenfalls die Muschkoten. Die Offiziere hatten selbstverständlich immer Vorrang.

Bezahlt wurde ausschließlich mit Naturalien. Geld war so gut wie wertlos. Nur Ware gegen Ware zählte. Offiziere brachten einmal einen ganzen Sack Zucker, ein anderes Mal einen Sack Mehl. Andere kamen mit einem kleinen Stücken Butter. Niemand wurde abgewiesen. Mutter arbeitete von morgens bis abends und oft bis spät in die Nacht hinein. 5 hungrige Mäuler waren schließlich zu stopfen. Was nicht sofort verbraucht wurde, ging in den Tauschhandel.

Nur wenige hundert Meter von uns entfernt gab es ein Versorgungslager.

Ein großer Silo enthielt Getreide. Ein zweites kleineres Gebäude enthielt Süßwaren und Schokolade. Ein drittes Gebäude, auch ein riesiger Silo, enthielt Konserven. Bei Kriegsende brannte dieser Silo vollständig aus. Die Ruine steht noch heute. Obwohl alles brannte, wurde geplündert. Aus Berlin kamen Tausende mit Rucksäcken und holten weg, was zu holen war. Oben brannte es, und unten wurde ausgeräumt. Dauernd explodierten Büchsen mit Fleisch oder Fett. Das gab dem Feuer immer neue Nahrung. Ich zog als 6-jähriger Bub mit einem kleinen Handwagen los und sollte auch Konserven holen. Auf Schritt und Tritt kamen mir Menschen mit vollgepackten Rucksäcken entgegen. Als ich meinen Handwagen mit vielleicht 50 Büchsen gefüllt hatte, zog ich von dannen. Aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die mir auf dem Rückweg entgegen kamen, hatten noch nichts. So griff manch einer im Vorbeigehen in meinen Wagen und stibitzte mir mein soeben Ergaunertes. Das bemerkte ich erst, als der Wagen immer leichter wurde. Zu Hause angekommen hatte ich nur noch 6 Dosen im Wagen. Ja, wie gewonnen, so zerronnen. Jeder hatte Hunger und jeder dachte nur an sich. Ich war der Einzige, der an mich dachte!

B3-Personenwagen der Deutschen ReichsbahnSpäter kamen die Hamsterzüge aus Berlin. Auf den C3-Wagen standen die Menschen dicht gedrängt auf den seitlichen Trittbrettern. Sogar die Dächer waren voll besetzt mit Menschen. Diesen Anblick werde ich nie vergessen.

Bei Wikipedia kann man einen solchen Personenwagen der Deutschen Reichsbahn sehen. Das ist zwar nicht der Originalzustand, sondern die Rekonstruktion.

C3g-Personenwagen der DR im Museum Aumühle

Im Eisenbahnmuseum in Aumühle steht noch ein Wagen. (C3: C für dritte Klasse und 3 für 3 Achsen)
Bei einer Wanderung durch den Sachsenwald konnte ich im Januar 2007 das Eisenbahnmuseum Aumühle besuchen. Ich kam rein zufällig dort vorbei und nutzte die Gelegenheit für einen Rundgang.
Man erkennt an dem Wagen deutlich die durchgehenden Trittbretter und die Griffstangen, an denen sich die Menschen mitsamt ihrem Gepäck festhielten.

 

Nach einem Bombenalarm

kamen wir alle wieder aus dem Keller eines benachbarten großen Mehrfamilienhauses heraus. Zum Glück waren im Ort nur wenige Bomben gefallen. Die Angst, wenn wir die Bomben heranheulen hörten, hat sich tief eingebrannt. Aber wir hatten Glück. Unsere Oma ist nie mit in den Keller gegangen. Sie sagte immer, wenn es sie mal trifft, dann hat es Gott so gewollt. Sie hat die Zeit anders genutzt. Wenn alle im Keller waren, ist sie einmal trotz Alarm "Schokolade_besorgen" gegangen. Und als wir nach der Entwarnung aus dem Keller kamen, gab sie uns allen freudestrahlend eine Tafel Schokolade. Niemand wollte die haben! Mein Bruder mußte sich sogar übergeben. Und das lag daran, daß nicht nur Oma Schokolade hatte. Schon im Keller hatte jemand eine ganze Kiste davon verteilt, und wir hatte soviel gegessen, daß uns schon im Keller davon schlecht wurde. Die Oma konnte das erst gar nicht verstehen. Wann hatte es schon einmal Schokolade gegeben? Und plötzlich war sie dank des nur wenige 100 Meter entfernten Verpflegungslagers im Überfluß vorhanden. Kaum vorstellbar, wir konnten keine Schokolade mehr sehen.

Also wurde die Schokolade im Garten vergraben!

Das war notwendig, denn noch immer zogen plündernde Soldaten durch die Gegend und räumten aus den Häusern aus, was sie kriegen konnten. Oma hatte ihren getragenen Pelzmantel mit dem schönen Silberfuchskragen in das große Haus nebenan bei Nachbarn zum Verstecken abgegeben. Als wir geplündert wurden, freute sich Oma, daß sie ihren Mantel in Sicherheit gebracht hatte. Aber sie hatte sich zu früh gefreut, denn das "große Haus" war anschließend dran.

Und genau aus diesem Grund wurde die Schokolade gut verpackt im Garten vergraben. Und mit ihr zusammen auch noch ein Karton mit Kunsthonig in Pappbechern. Aber jeden zweiten Tag kamen Russen und durchsuchten den Garten mit einem Säbel nach frisch Verstecktem. Leider wurden sie fast immer fündig. Die Suche war ja auch nicht gerade schwer. Sie brauchten nur nach frisch gegrabenen Boden zu suchen und fanden alles. Unsere Schokolade und der schöne Honig waren weg. Jedenfalls glaubten wir das. Jahre später fanden wir den Honig wieder. Wir hatten einen leeren Kaninchenstall darauf gestellt. So war dieser Schatz erhalten geblieben. Brauchbar war er nicht mehr. Die Pappbecher hatten sich aufgelöst, und der Kunsthonig war ausgelaufen und hatte nur den Garten gedüngt.

Unsere Hühner

mußten über Nacht immer mit ins Haus genommen werden, sonst wären sie am nächsten Tag nicht mehr da gewesen. Manchmal wurden sie sogar am helllichten Tag mit der MPi über den Gartenzaun hinweg abgeschossen und landeten im Topf der Besatzer, denen es auch nicht so gut ging, mal abgesehen von den Offizieren.

15 Hühner im Haus zu halten, war nicht gerade eine gute Lösung. Eines Tages hatten wir Millionen winziger Tierchen im Haus. Überall krabbelte es. Das waren Hühnerflöhe. Nun mußten die Hühner doch aus dem Haus, und die Wohnung wurde mit Seifenlauge desinfiziert. Nun ja, nicht die ganze Wohnung. Der improvisierte Hühnerstall war auf dem Hausflur unter der Holztreppe untergebracht. Den nannten wir Kabuse und sangen sprechend:

Dunkel wars der Mond schien helle
schneebedeckt die grüne Flur
als ein Wagen in blitzesschnelle
langsam um die Ecke fuhr

Drinnen saßen stehend Leute
schweigend im Gespräch vertieft
als ein totgeschossener Hase
auf der Sandbank Schlittschuh lief

Und der Wagen fuhr im Trabe
rückwärts einen Berg hinauf
Droben zog ein  weißer Rabe
gerade eine Turmuhr auf

Und auf einer roten Bank
die blau gestrichen war
saß ein blond gelockter Jüngling
mit kohlrabenschwarzem Haar.

Ist dat wahr wat da war
oder war da wat da war gelogen?

Ringsumher herrscht tiefes Schweigen
und mit fürchterlichem Krach
spielen in des Grases Zweigen
zwei Kamele lautlos Schach

Und zwei Fische liefen munter
durch das blaue Kornfeld hin
Endlich ging die Sonne unter
und der graue Tag erschien

Ist dat wahr wat da war
oder war da wat da war gelogen?

Droben auf dem Apfelbaume,
der sehr süße Birnen trug,
hing des Frühlings letzte Pflaume
und an Nüssen noch genug.

Dies Gedicht von Wolfgang Goethe
schrieb Schiller in der Abendröte
als er auf dem Nachttopf saß
und die Morgenzeitung las

Ist dat wahr wat da war
oder war da wat da war gelogen?

Zur Schule

ging ich in das Gemeindehaus im Dorf Rohrbeck, einem Ortsteil von Dallgow-Döberitz. Ich glaube, wir waren keine 10 Schüler, aber immerhin 3 Klassen im gleichen Raum. Vielleicht stand deshalb in meinem Zeugnis "Versetzung zweifelhaft!" Wenn meine Kinder mit schlechten Noten nach Hause kamen, tröstete ich sie immer mit dem Hinweis auf diesen Eintrag, womit ich mir regelmäßig den Ärger meiner besseren Hälfte zuzog. Der Schulweg führte entweder an der Ruine des ausgebrannten Silos oder am Kiki vorbei. Kiki war unsere Abkürzung für die Kiesberge hinter dem Rohrbecker Friedhof. Für Abenteuerspielplätze war reichlich gesorgt:

Abenteuerspielplatz Truppenübungsplatz

Der größte und schönste Abenteuerspielplatz, aber auch der gefährlichste, war der Truppenübungsplatz Döberitz. Dort gab es reichlich alte Waffen und scharfe Munition, Bomben und Granaten. Uns interessierte hauptsächlich das Stangenpulver aus den Kartuschen. Das gab es in zwei Farben. Die grauen, innen hohlen Stangen, ähnelten langen Makkaronis. Sie wurden an einem Ende angebrannt und dann mit dem brennenden Ende sofort in den Sand gesteckt. Unter Luftabschluß fingen sie an zu pfeifen und flogen davon. Die Flugbahn war nie voraussehbar. Irgendwann kam einer auf die Idee, dieses Stangenpulver zu bündeln und in Zeitungspapier fest einzuwickeln. Eine einzelne Stange mußte herausschauen und diente als Lunte. Diese Rakete aus Zeitungspapier wurde in der Hand gehalten, bis sie anfing zu pfeifen. Dann war es höchste Zeit, sie loszulassen. Sie flog mit Getöse und Pfeifen davon, und man mußte aufpassen, weil sie ständig die Richtung wechselte und manchmal sogar zurückflog. Wenn nach wenigen Sekunden der Druck zu groß wurde, flog die Piepsmaus, so nannten wir sie, auseinander und steckte alles in Brand. So waren wir ständig mit dem Löschen beschäftigt.

Als die grauen Stangen immer weniger wurden, nahmen wir die viel kleineren schwarzen Stangen. Da die nicht hohl waren, taugten sie nicht als Flugobjekt. Bis einer auf die Idee kam, sie in leere Lybbis-Milch-Dosen zu stecken. Diese Dosen gab es reichlich, und wir arbeiteten alle auf. Immer kam eine kleine Pulverladung in die Büchse rein und eine brennende Stange hinterher. Dann ging alles sehr schnell und die kleine Büchse ging ebenso unkontrolliert auf die Reise wie die Piepsmäuse aus Papier. Der Knall am Ende war aber unvergleichlich lauter, wenn die kleine Blechbüchse dem Druck nicht mehr standhielt und explodierte. Die Büchsen war besonders gut geeignet, weil sie nur zwei kleine Löcher hatten.

Irgendwann fehlte der Nachschub an Lybbis-Milchbüchsen, und auch das Stangenpulver war verbraucht. Nachschub war nur möglich, wenn wir das Stangenpulver aus den riesigen Kartuschen aus Messing herausbekämen. Aber die hatten eine Granate oben drauf. Bombentrichter gab es genug. Und so legten wir eine Kartusche in einen Bombentrichter und machten ein Feuer darunter an und warteten in einem anderen Bombentrichter in sichererer Deckung auf des Ergebnis. Es dauerte lange. Dann gab es doch noch den erwarteten Knall. Die Granate flog in eine Richtung und die Kartusche in eine andere Richtung. Das Schauspiel war in wenigen Sekunden vorbei und das erwartete Pulver war verschwunden. Zum Glück ist niemals jemand zu Schaden gekommen, woanders schon! Mutter hatte uns immer wieder gewarnt, aber wir hielten uns für schlauer.

Mein Bruder spielte in einer anderen Gruppe. Eines Tages kam er heulend nach Hause und wir dachten schon, es sei etwas Schlimmes passiert. Die hatten doch tatsächlich mit einem kaputten Kanonenrohr scharf geschossen! Sie buddelten das Rohr schräg in den Boden ein, nicht ohne vorher eine Lunte aus Stangenpulver mit einzugraben. Dann füllten sie das Rohr mit Pulver, setzten eine Granate oben drauf und zündeten unten die Lunte an. Und dann so schnell wie möglich weg in den nächsten Schützengraben oder Bombentrichter. So gelang ihnen pro Tag ein Schuß, ein scharfer Schuß!!!

Nach dem dritten oder vierten Schuß war Schluß mit dem Kriegsspiel, denn das Rohr flog auseinander. Das war also ein echter Rohrkrepierer. Und weil das schöne Spielzeug nun endgültig kaputt war, heulte er Rotzblasen und Dreierschnecken.
Vielleicht war es ein Glücksfall, daß die Ballerei auf diese Weise ein Ende fand.

Übrigens gab es zu Hause immer öfter Ärger, weil in unserer Gegend nach und nach immer mal wieder Briefkästen kaputt gingen. Sie wissen schon warum, nicht wahr?

Als alles Pulver verschossen war, trat endlich Ruhe ein und der Spieltrieb verlagerte sich wieder auf die Ruinen der Silos und auf den Kiki.

 

 

Mutter hatte in Berlin Arbeit bekommen.

Für kurze Zeit konnte Mutter in der Gemeinde Dallgow (b. Berlin) [der Ort wurde umbenannt, weil man die Erinnerung an den Truppenübungsplatz tilgen wollte!] Arbeit in einer Nähstube finden. Aber bald nahm in Ost-Berlin ein großes Bekleidungswerk mit dem Namen Fortschritt den Betrieb auf und suchte Arbeitskräfte. Das war ein Lichtblick. Aber Mutter war nun den ganzen Tag über weg. Früh ging es mit dem ersten Zug nach Spandau-West und von dort weiter mit der S-Bahn nach Jannowitzbrücke. Nach mehr als 12 Stunden kam sie fix und fertig wieder zu Hause an. Und das von Montag bis Sonnabend. Arbeiten konnte sie gut und schneller als viele ihrer Kolleginnen, sie war ja eine geübte Schneiderin. Zum Jahrestag der Republik sollte sie deshalb als Aktivist der Sozialistischen Arbeit ausgezeichnet werden.

Dazu mußte sie eine Frage beantworten:
"Wo wohnt Stalin?"

Mutter antwortete selbstsicher: "In Moskau".

Leider war das die falsche Antwort, sie wurde kein Aktivist der Sozialistischen Arbeit. Die richtige Antwort war:
"Stalin wohnt im Herzen jedes anständigen Deutschen!"

Mutter war nicht traurig. Wir lachten über diese neue Entwicklung in Ostdeutschland. Wer hätte solchen Unsinn für möglich gehalten. Man mußte es erlebt haben, sonst konnte man es nicht verstehen.

 

 

Meine Schulzeit ging 1952 zu Ende.

Obwohl am Ende des ersten Schuljahres meine Versetzung noch zweifelhaft war, konnte ich in der 8. Klasse mit besseren Noten punkten. Mein Klassenlehrer schlug mich deshalb für den Besuch der Oberschule in Falkensee vor. Aber der Kreisschulrat lehnte das ab. Ich war immer noch als Kriegsverbrecherkind abgestempelt. Schüler mit nicht so guten Noten bekamen den Vorzug. Und mein Klassenlehrer bekam richtig Ärger, weil er sich über diese Entscheidung des Kreisschulrates beschwert hatte. Die Tatsache, daß ich nicht nur Mitglied der Jungen Gemeinde war, sondern auch noch im Posaunenchor der Kirche mitspielte war wohl mit für die Ablehnung verantwortlich. Damals war ich 13 Jahre jung. Später hat mich eine Kaderleiterin einmal gefragt, ob ich nicht rechnen könne. Mit 13 käme man nicht schon aus der Schule. Dann müßte ich ja bereits mit 5 Jahren in die Schule gekommen sein. Ja, war ich auch. Dafür kann ich aber nicht, daran waren wohl die Wirren des Krieges Schuld.

Jedenfalls ging es nun erst einmal in ein Ferienlager nach Fürstenberg an der Havel. Weil ich dort irgendwann heftige Bauchschmerzen bekommen hatte, landete ich im Krankenhaus und kam nach einer Woche ohne Blinddarm wieder raus. Zu Hause angekommen mußte ich Bewerbungsschreiben aufsetzen. Eigentlich hat man sie mir diktiert. Ein Onkel in West-Berlin arbeitete bei der BEWAG und hatte für mich einen Ausbildungsplatz als Feinmechaniker organisiert. Ich bastelte sehr gerne und nun meinten alle, ich müsse unbedingt Feinmechaniker werden. Daraus wurde aber nichts, denn meine Mutter hatte große Angst, daß das Nachteile für meinen Vater im KZ Bautzen haben würde. Und diese Angst war nicht unberechtigt! Verwandte und Bekannte und selbst die Nachbarn warnten meine Mutter davor. Das hat Nachteile für den Gatten im Zuchthaus Bautzen! Und so wurde es nichts mit dem Feinmechaniker.

Es war schon Mitte August, und am 1. September sollte die Lehre beginnen. Aber welche und wo???

Mutter gab mir eines Tages einen Briefumschlag in die Hand und sagte, fahr' nach Wustermark Verschiebebahnhof und da meldest du dich bei Herrn Köng und gibst ihm diesen Brief.

WSL 1952Ahnungslos fuhr ich hin, fand auch den Herrn Köng und gab ihm den Brief. Setz dich mal da hin, sagte er zu mir. Dann fragte er mich, ob ich einen russischen Dichter kenne. Na, ja doch, kenn' ich und wunderte mich, daß er keinen kennt. "Gorki" schoß ich heraus und er fragte weiter, ob ich wüßte, wie ein Kreis berechnet wird. Wie doof ist der denn, dachte ich, weiß noch nicht einmal, wie ein Kreis berechnet wird. R Quadrat mal Pi. Richtig, freute er sich und sagte dann. Du bist angenommen, am Montag geht es los.

Was, fragte ich ungläubig? Na, du bist jetzt Junghelfer. Du wirst einmal ein richtiger Eisenbahner. Nun hatte ich begriffen. Der Brief enthielt eine der vielen Bewerbungen, die ich schon vor Wochen hatte schreiben müssen. Viel, weil viele Fehler im Bewerbungsschreiben waren.

Das Foto zeigt mich mit meiner ersten Eisenbahneruniform im November 1952. Da war ich gerade mal 13 Jahre alt! Nach 3 Monaten hatte ich "Hochwasserhosen", ich war schon herausgewachsen.

Aus politischen Gründen wurde es mit dem Feinmechanikerberuf dann doch nichts. In Westberlin saß der Klassenfeind, und Vater saß in Bautzen im KZ. Das war der nächste Schlag ins Gesicht der drei Kriegsverbrecherkinder. Und ich war doch erst 13!!!

Dennoch, die Lehrzeit war schön. Schon deshalb, weil ich 3 mal in der Woche 40 km mit dem Zug nach Rathenow fahren mußte. Das dauerte immer eine Stunde hin und wieder eine Stunde zurück. Da wurde viel Blödsinn im Zug getrieben. Und manchmal mußten wir bei der Transportpolizei antanzen, weil wir es im Zug gar zu bunt getrieben hatten.

Im ersten Lehrjahr fand der theoretische Unterricht noch im Lokomotivschuppen der inzwischen auf dem Abschnitt Kotzen - Rathenow stillgelegten Schmalspurbahn statt. Mein Stuhl stand auf den Bohlen des Untersuchungskanals. Ich mußte aufpassen, daß nicht ein Stuhlbein zwischen die Bohlen geriet. Jeden Tag mußten wir gleich neben dem Lokschuppen zum Arbeitseinsatz, die neue Schule mit aufbauen helfen.

Das waren noch Zeiten, als die Schüler ihre Schule selber bauen durften. Ganz so schlimm war es aber nicht, denn die neue Schule war schon fast fertig. Und als der Winter kam, war es im Lokschuppen vor Kälte nicht mehr auszuhalten und wir zogen um in das Empfangsgebäude des Bahnhofs. Im zweiten Lehrjahr war die Schule dann bezugsfertig.

Im Fachkundeunterricht Fachrechnen bekam ich einmal eine 5. Die zu lösende Aufgabe war eigentlich sehr einfach. Es sollte ein Gleis mit Holzschwellen gebaut werden und es sollte berechnet werden, wieviel Kilometer Gleis mit Schienen S49 und 22.300 Schwellen bei einer Schwellenteilung von 65 cm gebaut werden konnten. Ich hatte genau doppelt so viele Kilometer errechnet wie alle meine Mitschüler. Die wußten nämlich, daß ein Gleis immer ZWEI Schienen hat. Ich Trottel hatte aber mit einer Schiene gerechnet. Ich wollte wohl die Deutsche Reichsbahn zur Einschienenbahn machen. Das Gelächter kann man sich gut vorstellen.

Der Schlüssel zum Bahnhof

Die Ausbildung im Eisenbahnbetriebsdienst begann für mich auf dem kleinen Bahnhof Groß Behnitz. Gleich am ersten Tag erhielt ich den Auftrag, den Schlüssel zum Bahnhof zu holen. Natürlich mußte ich nachfragen, wo der denn ist. Na, dort hinten, wo das Wärterstellwerk ist. Das Stellwerk war nicht zu übersehen. Und die 500 Meter Fußweg waren auch bald erledigt. Der Wärter erwartete mich schon und schaute aus dem Fenster zu mir hinunter. Der wußte, was ich sollte, fragte aber scheinheilig noch mal nach, was ich von ihm wolle. Ich soll den Schlüssel zum Bahnhof holen, antwortete ich ihm. Und er zeigte in Richtung Neugarten. Ich fragte, wie weit das noch ist und er meinte ungefähr 200 Meter. Also ging ich weiter. Am Einfahrsignal war eine kleine Fernsprechbude, und da suche ich nach dem Schlüssel. Fernsprechbuden wurden mit einem Vierkantschlüssel geöffnet, den hatte jeder Betriebseisenbahner immer bei sich, auch ich. In der Fernsprechbude fand ich aber keinen Schlüsssel zum Bahnhof. Und so ging ich unverrichteter Dinge wieder zurück. Der Stellwerkswärter meinte, ich solle noch mal beim Fahrdienstleiter im Bahnhofsgebäude nachfragen. So trottete ich den halben Kilometer wieder zurück zum Ausgangspunkt. Bevor ich wieder den Dienstraum betreten konnte, fing mich ein mitleidiger Eisenbahner ab und erklärte mir, daß die das mit jedem Anfänger so machen. Den einen schicken sie los, um die Seele vom Rohr zu suchen und den anderen, um den Schlüssel zum Bahnhof zu holen.

Der Schlüssel zum Bahnhof ist das Einfahrsignal!
Kein Zug kommt in den Bahnhof hinein, ohne daß das Einfahrsignal auf Fahrt steht.

Ja, nun wußte ich Bescheid. Ich fand das ziemlich gemein und sann mit einem anderen Junghelfer, den sie auch reingelegt hatten, auf Rache.

Und da fiel uns folgenden ein:

Zirkustransporte fanden damals im Gegensatz zu heute fast immer auf der Bahn statt. Und Zirkustiere, wie auch alle anderen Tiertransporte, mußen regelmäßig getränkt werden, hin und wieder auch auf dem Bahnhof Groß Behnitz. Aber das wäre ja viel zu leicht gewesen und das machten ja immer die Begleiter der Tiertransporte.

Wenn auf der Bahn Giraffen befördert werden sollten, waren gedeckte Güterwagen mit einem Tonnendach vorgeschrieben. Aber wir wollten einen Giraffentransport in einem Ersatzwagen mit Flachdach vorgaukeln. In den 50er Jahren gab es noch keine Faxgeräte. Alle wichtigen und eiligen Meldungen gingen ausschließlich über Morsefernschreiber. Und das Morsen hatten wir schon in der Fernschreibschule gelernt. Jeden Morgen fand ich bei Dienstantritt ein riesigen Haufen Morsestreifen am Boden liegend vor. Das war ein Fernschreiben, bestehend aus hunderten Punkten und Strichen, die ich fein säuberlich abzuschreiben hatte. Das übte zwar, machte aber keinen Spaß.

Mein Klassenkamerad saß auf dem Nachbarbahnhof Neugarten und morste, was das Zeug hielt,
das "Rache-Bahndienstfernschreiben" nach Groß Behnitz:

B v Rbd Bln Nr 17 v 22.10.52 8:30
N 8544 befördert an der Zugspitze G 1 mit 2 Giraffen. Wegen Ersatzgestellung 1 G mit Flachdach.
Bf Gbn sorge für 10 Minuten Freigang der Giraffen.

Ich zeigte dem Fahrdienstleiter das Telegramm, worauf der kopfschüttelnd meinte, sowas hatten wir ja noch nie und ging damit zum Chef. Dienstvorsteher des Bahnhofs war damals Herr Sumpf. Der sagte zum Fahrdienstleiter nur: "Na dann mach mal!"

Der Nahgüterzug 8544 rangierte planmäßig auf dem Bahnhof und setzte meistens einige leere Waggon für Holz- oder Erntetransporte ab und nahm beladene Waggon wieder mit. Insofern gab es durch unsere Ulk-Aktion keinen unnützen oder zusätzlichen Zughalt.

Alle Nachfragen nach den Giraffen blieben erfolglos. Wir hatten unseren Spaß und eine kleine Rache. Zum Glück hielten alle Eingeweiten dicht, sonst hätten wir wohl ziemlich viel Ärger bekommen.

 

 

Eisenbahner bekamen Freifahrtscheine!

Das war eine feine Sache, kostenlos durch Deutschland fahren können und keinen Pfennig dafür bezahlen zu müssen. Leider waren die 4 Freifahrten (jeweils hin und zurück) nicht übertragbar. Sonst hätte Mutter auch zu Vater nach Bautzen fahren können. Das bißchen Geld reichte dafür nicht. Und so durfte ich meinen Vater einmal im Vierteljahr für 30 Minuten im Zuchthaus Bautzen besuchen. Der Eindruck war sehr bedrückend, denn Vater wurde immer mit zwei Schäferhunden zum Besuchsraum gebracht. Viel sprechen konnten wir nicht, denn wir wurden ständig unterbrochen und belehrt, was gesagt werden durfte und was nicht. Eine nicht nur sehr traurige sondern besonders schlimme Zeit. Wenn Mutter Post aus Bautzen bekam, dann war der ohnehin sehr kurze Brief im DIN A5-Format an mehreren Stellen beschnitten. Nichts sollte nach außen dringen. Die Überwachung funktionierte perfekt.

Einmal bedankte sich Vater in einem Brief über die schönen selbstgestrickten Socken. Die sind so schön warm. Und Mutter überlegte lange, ob Vater nun schon durchgedreht war, denn sie hatte niemals Socken geschickt. Doch dann kam die Erleuchtung. Vielleicht will er Socken haben, vielleicht friert er da? Natürlich, er braucht unbedingt Socken. Im nächsten Brief freute er sich über die Zitrone, die dann auch geschickt wurde. Und so wurde mit kleinen Tricks das Überwachungssystem etwas ausgehebelt.

17. Juni 1953

Das erste Lehrjahr als Junghelfer bei der Deutschen Reichsbahn ging zu Ende. Die meiste Zeit der praktischen Ausbildung verbrachte ich auf dem Bahnhof Wustermark (Ort), nicht zu verwechseln mit dem Verschiebebahnhof Wustermark. Das Empfangsgebäude war zerbombt. Es gab nur noch den Güterboden mit einer großen Fahrradaufbewahrung. Damals fuhr fast jeder noch mit dem Fahrrad zum Bahnhof. Alwin L. war der Kassenverwalter und gleichtzeitig der Herr über die Fahrkartenausgabe und den Güterboden. Er führte auch das Hauptbuch, was ich nie so richtig verstanden hatte. Links die Einnahmen und rechts die Ausgaben. Ein riesiges Buch, das aufgeschlagen den ganzen Tisch bedeckte.

Einmal gab es einen schweren Unfall eines Reisenden, der noch auf den ausfahrenden Personenzug nach Rathenow aufspringen wollte. Er rutschte ab, fiel zwischen die Bahnsteigkante und den Zug und wurde regelrecht gerollt, bis er im Gleis angekommen war und sich nicht mehr rührte. Der damalige Dienstvorsteher Ulli B. hatte Unfallbereitschaft. Man legte den Schwerverletzten auf eine Trage und brachte ihn auf den Güterboden, wo ausgerechnet ich ihn bewachen sollte. Paß auf, daß er nicht aufsteht, bis der Arzt kommt!
Bis der Arzt kam, dauerte es aber eine Weile, und der Mann erwachte und wollte aufstehen. Ich war gerade mal 14 Jahre alt. Und nun mußte ich einen blutüberströmten Mann am Aufstehen hindern. Ich schrie in Panik um Hilfe, und Alwin kam. Das war mein bis dahin schlimmstes Erlebnis bei der Deutschen Reichsbahn.

Aber wenige Tage später kam es noch schlimmer. Es fuhr kein Zug mehr von und nach Berlin. Gerüchteweise war zu erfahren, daß in der Berliner Stalinallee die Arbeiter streikten. Aufstand, Revolution, die Arbeiter wehrten sich gegen die Ausbeutung nach Adolf-Henneke-Art. Henneke war als Normenbrecher verrufen.

Ich fuhr an diesem 17. Juni mit einer Lz (Lokomotivleerfahrt) nach Wustermark Vbf. Der Lokführer wollte nach Hause und mit seiner Lok ins Heimat-Bw und auf gar keinen Fall noch einen Zug bespannen. Von Wustermark Verschiebebahnhof ging ich die letzten Kilometer zu Fuß bis nach Dallgow.

Meine Mutter arbeitete im Bekleidungswerk "Fortschritt" in Berlin. Auch dort wurde gestreikt. Mutter lief fast 30 Kilometer zu Fuß nach Hause und kam völlig geschafft erst spät in der Nacht an.

Was wirklich in Berlin geschah und daß sowjetische Panzer den Aufstand brachial niederwalzten und daß es viele Tote und Verletzte gegeben hatte, erfuhren wir erst später vom Radio-Sender RIAS Berlin (Rundfunk im amerikanischen Sektor).

Auch im KZ Bautzen war der Aufstand angekommen.
Die Gefangenen riefen aus den vergitterten Fenstern des Zuchthauses:

"Wir wollen das Rote Kreuz haben!"

Und dann kam die Knüppelgarde und jeder bekam das rote Kreuz!

 

Mit 16 Jahren hatte ich ausgelernt.

Aus dem Junghelfer war nun ein richtiger Eisenbahner geworden. Leider war er zu nichts zu gebrauchen! In dem jungen Alter durfte ich keinen Schichtdient machen und durfte auch nicht im Betriebsdienst eingesetzt werden. So landete ich zunächst auf der Umladehalle Wustermark. Dort war ich Ladeaufsicht. Hört sich toll an, war es aber nicht. Meine ganze Arbeit bestand darin, die Frachtbriefe in die außen am Waggon angebrachten Holzkästen einzusortieren. Und selbst das war schwierig genug. Ich hatte einen Arbeitsschutzmantel bekommen, der viel zu groß war, obwohl das schon die kleinste vorhandene Größe war, die es gab. Immer wenn ich einen Frachtbrief greifen wollte, mußte ich zuerst einmal mit der einen Hand den Ärmel an der anderen hochschieben, um die Hand frei zu bekommen. Und im nächsten Moment waren wieder beide Hände in den Ärmeln verschwunden. Natürlich hatte ich auch darauf zu achten, daß nur die Stückgüter in die Wagen kamen, die auch dort hinein gehörten. Die Güterbodenarbeiter arbeiteten nämlich im Akkord. Und wenn man nicht aufpaßte, schmissen sie die Kisten einfach ab, wo es ihnen gerade paßte. Zum Glück war immer der Kolonnenstempel auf dem Frachtbrief und man hatte den Übeltäter schnell ermittelt. Und wenn ein Waggon etwa dreiviertel voll war, mußte ein neuer noch leerer Waggon als Ersatz bereitgestellt werden. Mit Kreide wurde dann an der Schiebetür die Zielnummer angeschrieben. Das war meine ganze Arbeit!

Der Chef der Umladehalle war Herr Zietz. Ein feiner Mensch und immer freundlich. Einmal beklagte er sich, daß er hin und wieder angerufen wurde, sich mit "Umladehalle Wustermark, Zietz" vorschriftsgemäß gemeldet hatte und zur Anwort bekam."Dann mach doch die Tür zu!" Heute würde man das wohl Mobbing nennen. Aber das Wort war damals noch unbekannt. Russisch war wichtiger als Englisch. "Von der Sowjetunion lernen - heißt siegen lernen!" - das war die gültige Parole.

Sie können hier nicht versauern, sagte Herr Zietz eines Tages zu mir. Ich würde sie gerne im Ermittlungsdienst einsetzen. Das war vielleicht eine stupide Arbeit. Den ganzen Tag lang nur immer Beschädigungszettel und Protokolle schreiben. Wann ist wem warum etwas von der Stechkarre gefallen und welcher Schaden ist dabei entstanden? Oder Nachforschungen nach ohne-ohne-Gut anstellen. Das ist zum Beispiel eine Kiste ohne Absender- und Empängerangaben und ohne Frachtbrief. Solche Aufgaben erledigte das DAGLA, also das Deutsche Ausgleichamt in Leipzig, sofern man nicht nach dem Öffnen des Stückgutes auf entsprechende Hinweise stieß.

Jedenfalls bin ich einmal nach den 3 Nächten (Vierbrigadeplan Freitag, Sonnabend und Sonntag 32 Stunden Nachtarbeit!) gegen Ende der Schicht eingeschlafen. Herr Zietz kam früh zur Kontrolle und fand mich mit dem Kopf auf dem Schreibtisch liegend vor. Er ging sofort wieder und zog die Tür ein wenig kräftiger hinter sich zu, so daß ich geweckt wurde. Dann kam er erneut herein und tat so, als hätte er überhaupt nichts bemerkt. Nun ja, ich hatte ja auch nicht aus lauter Faulheit geschlafen. Der Vierbrigadeplan der Reichsbahn war nun wirklich keine gesunde Erfindung.

Vierbrigadeplan der Deutschen Reichsbahn

Schicht 1:
6 - 14
Schicht 2:
14 - 22
Schicht 3:
22 - 6
Schicht 4:
6 -18
Schicht 5:
18 - 6
R - Ruhetag RS - Sonntagsruhetag AfT - Arbeitsfreier Tag früher 10 - 22 früher 22 - 10

Dies ist schon die nachgebesserte Version des Vierbrigadeplans. Beim Vorläufer endeten die Nachtschichten (5) am Sonnabend und Sonntag jeweils um 10 Uhr. Analog begannen die Wochenend-Tageschichten (4) immer um 10 Uhr. Zudem gab es noch sogenannte Vorbereitungsschichten. Die waren von 10 bis 14 Uhr der Spätschicht vorangesetzt, so daß sich eine 12-Stunden Schicht ergab und im Durchschnitt die 48-Stundenwoche.

 

Weihnachten 1956,

Heilig Abend war vorbei. Ich hatte in meinem Zimmerchen eine Kerze aufgestellt und war eingeschlafen. Am nächsten Morgen erzählte ich meiner Mutter, ich habe geträumt, daß Vater nach Hause gekommen war. Wir hätten uns riesig gefreut und uns lange in den Armen gelegen und geheult.

Und Mutter sagte, "Du hast das nicht geträumt. Er ist wirklich entlassen worden und in der Nacht mit dem letzten Zug hier angekommen."

Und wo ist er jetzt?

Er ist gleich mit dem ersten Zug nach West-Berlin gefahren und meldet sich dort als Flüchtling und bei seiner alten Polizeidienststelle in Spandau.

Ein jahrelanger Traum war Wirklichkeit geworden. Anfang Januar 1957 erschien ein Gemeindediener und fragte, warum sich mein Vater noch nicht angemeldet hat. Und Mutter sagte, er habe sich bei seiner alten Polizeidienststelle in Spandau gemeldet und bleibt auch dort. Der gute Mann schien damit gerechnet zu haben, notierte alles und verschwand wortlos.

Anfang 1957

Vater hatte in West-Berlin eine Notunterkunft bezogen. Mutter zog ein paar Monate später nach und nahm den jüngsten Sproß (12) mit. Fortan "wohnten" alle drei in einem großen Zimmer, in dem abgeteilt mit Wolldecken, noch mehrere andere aus dem Osten geflüchtete Familien lebten. Wenn es nicht Besuchszeiten gegeben hätte, wäre die "Wohnung" wohl wegen ständiger Überfüllung geschlossen gewesen. Schon ohne Besucher war das Gedränge unerträglich. Küche und Toilette mußten von allen gemeinsam genutzt werden. Und die große Wohnung hatte ja nicht nur dieses eine Zimmer!

Mein ein Jahr jüngerer Bruder und ich blieben im Elternhaus in Dallgow zurück. Damit wir beiden Jungspunte nicht untergehen, hatte Mutter Tante Ottilie, die in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge wohnte, gebeten, sie möge doch nach Dallgow umziehen und uns bemuttern. Tante Otti sagte trotz ihres hohen Alters (80) zu.

Mutter und mein kleiner Bruder waren schon vor Wochen geflüchtet, da kam wieder ein Polizist und fragte nach dem Verbleib meiner Mutter. Das Fortschrittwerk in Berlin hatte wohl nach Mutter geforscht. Dort konnte sie ja schlecht kündigen oder gar mitteilen, daß sie die Absicht hatte, den Arbeiter- und Bauernstaat zu verlassen, also zu flüchten. Der Polizist nahm das mit stoischer Ruhe entgegen und fragte, wie lange ich noch bleiben würde. Ich wollte aber gar nicht weg. Ich hatte viele Freunde. Ich hatte eine feste Arbeit, die mir auch Freude machte. Warum sollte ich weg? Außerdem hatte ich ja jederzeit die Möglichkeit, meine Eltern und Geschwister in West-Berlin zu besuchen. Eine Station mit dem Zug bis nach Berlin-Staaken und eine weitere Station mit der S-Bahn, und ich war in Spandau. Eine Mauer gab es noch nicht, noch nicht! Der antifaschistische Schutzwall kam erst 1961. Und an den glaubte eigentlich niemand so recht.

Mein anderer Bruder war auch noch in Dallgow geblieben. Er lernte im LEW Hennigsdorf Schlosser. Als er im Sommer mit der Lehre fertig war, zog auch er nach Spandau zu den Eltern. Obwohl er eine hervorragende Ausbildung genossen hatte, wurde seine Prüfung in West-Berlin nicht anerkannt. Er mußte noch ein Jahr nachlernen. Sein niederschmetterndes Urteil: "Die Lehre ist hier viel schlechter als in Hennigsdorf"!

Irgendwann überredete mich der Dienstvorsteher der Umladehalle Wustermark, Herr Zietz, ich solle studieren. Ich hätte das Zeug dazu. Er selbst hatte in Dresden an der Eisenbahnhochschule im Fernstudium das Diplom für Eisenbahn- Betriebs- und Verkehrstechnik gemacht. Und das könnte ich doch auch. Als ich mich bewerben wollte, machte man mir aber sehr schnell klar, daß mir die entscheidende Voraussetzung für ein Studium fehlte.

Ich hatte kein Abitur.

Das durfte ich als Kriegsverbrecherkind ja auch nicht machen. Sippenhaftung im Arbeiter- und Bauernstaat!!! So machte ich erst einmal einige Lehrgänge an der Volkhochschule in Falkensee mit. Deutsch, Stenografie und Schreibmaschine hielt ich für wichtig. Das war zwar nicht verkehrt, aber es reichte natürlich nicht für die Vorbereitung auf ein Studium. So nahm ich auch noch ein weiteres Abendstudium an der Eisenbahnerschule in Berlin-Lichtenberg auf. Mathematik, Physik, Chemie, Eisenbahnfachwissen und etliche andere Fächer. Damit war ich nicht nur ausgelastet, sondern auch zeitlich völlig überfordert. Denn inzwischen war ich im Schichtdienst (Vierbrigadeplan) im Wagendienst, als Aufsicht Güterbahnhof und als Wagendispachter tätig, 48 Stunden in der Woche. Und nebenbei ging ich in Falkensee und Berlin zur Schule. Wenn ich Tagesdienst, also Früh- oder Spätschicht hatte, konnte ich nicht am Unterricht teilnehmen. Freigestellt wurde ich dafür nicht. Schließlich war ich kein Parteigenosse. Also mußte ich jedes Mal den Dienst tauschen und zwar drei Mal in der Woche. Zum Tauschen blieb nur die Nachtschicht übrig. Häufig kam ich aus der Nachtschicht, fuhr anschließend zur Schule nach Berlin oder zur Volkshochschule nach Falkensee und ging abends erneut zur Nachtschicht!

In der Zwischenzeit fiel dem BGL-Vorsitzenden auf, daß ich keine sogenannte gesellschaftliche Tätigkeit auf dem Bahnhof leistete. Er wollte mich verpflichten, die Wettbewerbsabrechnungen der Brigaden der Sozialistischen Arbeit nachzurechnen. Als ich das aus Zeitmangel ablehnte, bekam ich zur Antwort, daß ich dann auch nicht zum Studium delegiert werden könne.

Das wiederum war nun das gefundene Fressen für den Parteisekretär. Ich bräuchte ja nur Kandidat der SED zu werden, dann würde er schon dafür sorgen, daß es mit der Delegierung klappt. Ich wollte aber nicht in die SED eintreten und antwortete ihm: "Umgekehrt! Wenn ich studieren darf, dann werde ich in die Partei eintreten! Nicht umgekehrt!" Ich war mir sicher, daß es mit dem Studium sowieso nichts wird, hatte mich aber getäuscht, denn der Parteisekretär kannte mich zu gut und wußte, daß ich mein Wort halten würde. Er traf tatsächlich Vorkehrungen für mein beabsichtigtes Studium. Und so sah ich mich unverhofft in der Zwickmühle:

Entweder unehrlich und studieren dürfen oder ehrlich und alles war umsonst!

Also wurde ich widerwillig Kandidat der SED. Für die Kandidatenzeit gab es einen Paten. Das war Helmut S., ein prima Kumpel und Fahrdienstleiter auf dem Befehlstellwerk Wur. Er tat, was die Partei befahl, um mich auf den "richtigen" Weg zu bringen. Ein Genosse, der fest auf dem Boden der Arbeiter- und Bauermacht steht, sollte ich werden. Und mein Pate sollte mir den rechten Weg dahin weisen.

Die Kandidatenzeit ging zu Ende und man lud mich zur SED-Kreisleitung nach Nauen zu einem abschließenden Gespräch ein. Der Pate mußte mit, durfte aber am Einzelgespräch nicht teilnehmen. Irgendwann kam das Gespräch auf meine "republikflüchten" Eltern und Geschwister. Man verlangte von mir, daß ich schriftlich erklären solle, jedweden Kontakt mit meinen Eltern und Geschwistern abzubrechen!

Das war zuviel des Guten!!! Eine Partei, die Familien auseinanderbringen will, in die wollte ich keinesfalls eintreten. Ich sprang auf und erkärte denen, daß ich in keine Partei eintreten würde, die von mir verlangt, daß ich meine Eltern und Geschwister verleugnen solle. Eigentlich war ich dankbar, daß es so gekommen war. Und raus war ich, nicht nur aus der Besprechung, auch aus dieser Partei, in die ich gerade aufgenommen werden sollte.

Vor der Tür wartete mein Pate und bekam mit, wie aufgeregt ich war. Als ich ihm kurz erzählte, wie alles gelaufen war, zog er mich zur Seite und schaute sich nach allen Seiten um, ob uns auch ja niemand beobachtete. Und dann fiel er mir um den Hals und beglückwünschte mich. Er war außer sich vor Freude. Dieser Parteiauftrag war für ihn nun erledigt und er hatte wieder ein reines Gewissen. Daß die Genossen der SED-Kreisleitung mich nicht bekamen, dafür konnte er ja nicht. Dumm gelaufen für die Partei der Arbeiterklasse.
Dumm gelaufen leider auch für mich, denn mit dem Studium war es nun wohl ein für alle Mal vorbei.

 

Im Frühjahr 1959 las ich in der Eisenbahnerzeitung Fahrt frei,

daß die Ingenieurschule für Eisenbahnbetriebs- und Verkehrstechnik in Gotha noch Studienplätze frei hat. Die gleiche Anzeige gab es auch in der Zeitung Junge Welt. Ich nahm beide Zeitungen und fuhr damit nach Berlin zur Reichsbahndirektion. Am liebsten hätte ich mit dem Präsidenten gesprochen und ihm die Zeitungen auf den Tisch geknallt. Aber so weit kam ein gewöhnlich Sterblicher wie ich natürlich nicht. Ich war ja nur ein einfacher B+V-Eisenbahner (Betrieb und Verkehr).

Nach stundenlangem Warten rief man mich dann in die Kaderabteilung. Dort durfte ich immerhin meine ganze Lebensgeschichte noch einmal ausbreiten. Die Sache mit der Partei habe ich natürlich nicht erzählt. Vermutlich wußten sie das auch noch nicht. Die ganze Unterredung führte eine Frau mit mir. Sie beteuerte immer wieder, daß noch Studienwillige gesucht werden und daß die Rbd Berlin auch verpflichtet ist, junge Eisenbahner zu delegieren. Diese Aufgabe sei noch nicht erfüllt. Sie müsse aber garantieren, daß ich nicht nach Beendigung des Studiums die Republik illegal verlassen würde. Diese Garantie sollte ich ihr geben. Aber wie macht man das? Das konnte sie mir auch nicht erklären. Sind SIE denn in 3 oder 5 Jahren noch hier, bohrte ich weiter. Sehen sie, sie können das auch nicht garantieren. Es sind doch schon ganz andere nach dem Westen gegangen, die man für zuverlässig gehalten hatte. Sogar Leute aus dem Ministerium für Verkehrswesen!

Sie war in der Zwickmühle. Einerseits wollte sie ihren Plan erfüllen und andererseits mußte sie meine Zuverlässigkeit garantieren. Sie konnte weder das Eine noch das Andere. Sie rang mit sich und bekam Tränen in den Augen.
Kaderleute hatten es nicht leicht! lach doch mal Eine Anwort bekam ich nicht. Und so ging das Leben weiter wie bisher.


Ende August 1959

bekam ich aus heiterem Himmel und völlig unerwartet Post aus Gotha. Ich sollte zum Aufnahmegespräch zur Ingenieurschule kommen. Damit hatte ich nun wirklich nicht mehr gerechnet. Keine 10 Tage vor dem Beginn des Studiums sollte die Aufnahmeprüfung beim Direktor Gollasch persönlich stattfinden.

Das Aufnahmegespräch zog sich in die Länge. Zeit gab es genug, denn ich war der einzige Prüfling. Nachdem ausgiebig Fachtehmen abgefragt wurden, ging es dann auch in's Private und Politische. Irgendwann rutschte mir das Unwort "Ostzone" heraus. Statt Ostzone hätte ich besser mit strahlendem Lächeln Deutsche Demokratische Republik sagen sollen. Dann hätte er erkannt, daß ich fest auf dem Boden der Arbeiter- und Bauernmacht stand.

Aber nun war es einmal passiert. Eine unbedachte Antwort, und das Kartenhaus brach erneut zusammen!
Der Direktor lief rot an, erhob sich abrupt von seinem Stuhl und beendete die Prüfung mit den Worten:

"Sie sind noch nicht reif für ein Studium bei uns!"

So oder so ähnlich, genau weiß ich das nicht mehr. Wieder einmal schien alles aus zu sein. Schon an der Tür, nahm ich all meinen Mut zusammen und wollte ihm erklären, wie es zu dieser unbedachten Äußerung gekommen ist. Er möge mir doch bitte die Chance geben, das erklären zu dürfen. Und tatsächlich, über seine Lippen kamen die Worte "Nehmen Sie Platz".

Thüringen war von Berlin so weit entfernt, daß man dort über Berliner Verhältnisse nur wenig wußte. Er hörte mir aber geduldig zu. Und so erklärte ich ihm, daß man im Berliner Raum ständig von Ostberlin und Westberlin sprach, obwohl für Ostberlin der viel zu lange Begriff

"Berlin - Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik"

verwendet werden sollte. Ostberlin und Westberlin waren lange Zeit im Sprachgebrauch und hatten sich verfestigt. Und wenn man vom Umland sprach, dann benutzte man das Wort Ostzone weil es eben kürzer als Deutsche Demokratische Republik war. Irgendwann wurde das Gespräch ruhiger und nahm schließlich sogar freundliche Züge an. Dann gab er mir die Hand und sagte: "Am 1. September geht es los. Reisen sie am 31. August an."

 

Studium an der Ingenieurschule für Eisenbahnbetriebs- und Verkehrstechnik in Gotha

Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, teilte man mir mit, daß ich kein Stipendium bekommen könne, weil nicht sicher sei, daß ich nicht nach dem Studium die Republik verlassen würde. Damit stand ich im Prinzip schon wieder vor dem Aus. Unterkunft und Verpflegung mußten bezahlt werden und Lernmittel mußten auch noch gekauft werden. Also meldete ich mich wieder beim Direks an. Der nutzte meine Lage geschickt aus und erwartete von mir, daß ich den Klassensekretär machen sollte. Dafür hätte sich bisher noch keiner gefunden. Was blieb mir weiter übrig, als ja zu sagen, und mein Stipendium war vorerst gesichert. Das waren immerhin 60 Mark der Deutschen Notenbank, also 60 Ostmark. Punkt.

Untergekommen war ich in einer Dreier-WG. Das konnnte man sich nicht aussuchen, das wurde bestimmt. Peter S. von der Insel Rügen, genannt Inselpeter, ein Student aus Großenhain in Sachsen und ich der Berliner. Wir waren eine bunte Mischung aus allen Landesteilen der Republik mit allen Vor- und Nachteilen. Diese Auswahl hatte man nicht dem Zufall überlassen.

Jeden Morgen vor Beginn des Unterrichtes gab es einen Fahnenappell. Alle 3 Studiengänge mußten zackig im Gleichschritt und in Eisenbahneruniform nach Lautsprechermusik vom Hinterhof aus auf die Straße marschieren, dort rechts um und nach kaum 50 Meter durch den Haupteingang wieder zurück auf das Grundstück. Das allein war jeden Morgen schon eine Lachnummer für sich. Um den Springbrunnen vor dem Hauptgebäude standen wir dann zum Fahnenappell im Halbkreis stramm, und die Klassenältesten mußten Meldung machen. Dannn wurden die Vorkommnisse des Vortages bekannt gegeben, alles über Lautsprecher, damit halb Gotha wußte, wer tags zuvor nicht rechtzeitig im Bett war. Ein Amüsement für die Leute auf der Straße, die oft kopfschüttelnd zuschauten. Nach einer viertel Stunde war der Spuk vorbei und es ging den gleichen Weg im Gleichschritt zurück über die Straße und den Nebeneingang wieder auf das Gelände, wo sich der Zug auf Befehl "Wegtreten!" aufllöste.

Vor dem Unterricht wurde regelmäßig eine Zeitungsschau gehalten, jeden Tag von einem anderen Studenten. Daß diese Zeitungsschauen politisch ausgerichtet waren und regelmäßig den Klassenfeind im Westen anprangern mußten, verstand sich von selbst.

Nach 4 Monaten wurde gegen Ende des Jahres noch vor dem Weihnachtsurlaub die Spreu vom Weizen getrennt. Wer bis dahin nicht den erwarteten Wissensstand erreicht hatte, wurde gnadenlos gefeuert, durfte aber auf der Eisenbahn-Techniker Schule in Eisenach weiter studieren. Ich muß zugeben, ich hatte auch damit gerechnet. Aber es kam anders. Ich hatte die Eins des kleines Mannes (die Note 3) als Durchschnittsnote erreicht und durfte weitermachen. Da jeder irgendeine gesellschaftliche Tätigkeit nachweisen mußte, meldete ich mich bei der Gesellschaft für Sport und Technik an, allgemein als GST bekannt. Da konnte ich diese Pflichtübung sogar zum Hobby machen.

Eisenbahner im Betriebsdienst mußten nämlich in ihrer Lehrzeit als Junghelfer einen mehrwöchigen Fernmeldelehrgang besuchen und unter anderem das Morsen erlernen. Bis Ende der 50er Jahre wurden die Züge von Zugmeldestelle zu Zugmeldestelle schriftlich per Morseapparat angeboten und angenommen. So konnte man im Falle eines Eisenbahnunfalles oder bei Unregelmäßigkeiten nachweisen, wer das verbockt hatte. Denn auf beiden Zugmeldestellen lag der Sachverhalt schriftlich dokumentiert auf dem Morsestreifen vor. Später wurden die Morseapparate durch Sprachspeicher ersetzt und die Morseausbildung entfiel.

Und deshalb meldete ich mich bei der GST in Gotha für die Ausbildung zum Amateurfunker an. Selbst funken durfte man natürlich erst nach bestandener Prüfung und Überprüfung durch die staatlichen Organe. Die Prüfung hatte ich mit sehr gut bestanden, funken durfte ich dennoch nicht. Meine Westverwandtschaft ersten Grades und vor allem die Tatsache, daß mein Vater auch noch bei der dortigen Polizei tätig war, ließen das leider nicht zu.

Man erklärte mir das so:

Wenn man drüben (im Westen) erfährt, daß ich in der DDR Funker sei, dann kann man meinen Vater damit erpressen und mich nötigen, Funkverkehr mit dem Westen aufzunehmen. Damit sollte Spionage per Funk verhindert werden. Soweit gut, das hatte ich auch verstanden.

Aber hätte man mir das nicht auch vorher sagen können?

DM-Diplom als Amatuerfunk-HörerHADM-Diplomfür DDR-Amateurfunk-HörerHörerkarte im Amateurfunk DM2ADM der DDR

Prüfung umsonst gemacht! Aber als Amatuerfunk-Hörer durfte ich am Funkverkehr teilnehmen. Dafür gab es sogar das DM-Diplom, mit dem man berechtigt war, den internationalen Amateurfunkverkehr zu hören. Ist das nicht toll??? Zum Radiohören brauchte man eine Genehmigung, jedenfalls für die Kurzwellenbänder im 80, 40, 20 und 10 Meter-Band. Wir hörten ohnehin fast nur auf dem 80-Meterband. Denn je kürzer die Wellenlänge wurde, um so komplizierter war die erforderliche Technik, die man auch noch selbst bauen mußte. Und die notwendige Technik, vor allen Dingen die Radioröhren, die nur schwer zu bekommen waren

In Falkensee wollte ich in einem Fernsehladen einmal eine E88CC kaufen und erhielt die Antwort: "Für's Westfernsehen verkaufen wir nicht!" Tatsächlich wollte ich mir einen Konverter für das zweite Programm bauen, wofür man diese Röhre brauchte.

Ausschußtransistoren aus dem Halbleiterwerk Frankfurt Oder bekamen wir sogar geschenkt. Offenbar gab es genügend Ausschuß. Die Dinger hatten oft nur einen Stromverstärkungsfaktor von 5, waren so zu nichts zu gebrauchen, außer für den Bau einer elektronischen Morsetaste. Ein Transistor, einige kleine Kondensatoren und Widerstände, eine 4 1/2 Volt-Flachbatterie und ein Kunststoffstreifen als biegsame Taste, eingebaut in eine Seifendose, und fertig war die elektronische Morsetaste. Nur ein Kopfhörer mußte noch angeschlossen werden.

Als der Dozent für Signal- und Sicherungstechnik von meiner Leidenschaft zur Funktechnik erfuhr, stieg mein Ansehen bei ihm beträchtlich. Erstaunlicher Weise wirkte sich das sogar positiv auf meine Noten im Fach Sicherungstechnik aus. Von gut nach sehr gut! Damit konnte man wunderbar Hören und Geben üben.


Das Grubenunglück in Zwickau am Rosenmontag 1960

Zum Grubenunglück in Zwickau gab es in der Aula einen Vortrag des Direktors und anschließend eine Schweigeminute und leider auch die herbe Mitteilung, daß aus diesem Anlaß und wegen der Staatstrauer die bevorstehende Heimfahrt gesperrt wird. Das wurde wie eine Strafaktion aufgenommen, aber niemand muckte deshalb auf. Alle ergaben sich ihrem Schicksal, nur Roland nicht. Der lud seinen Frust an einem Studienkollegen aus unserem Matrikel aus, hielt in dem Gedränge auf den Fluren einen anderen Studenten kurz an der Schulter fest und bumste ihm sein Knie gegen den Hintern und sagte: "Scheiß Grubenunglück!"

Schlimmer konnte es gar nicht kommen!

Der so Gerempelte war nicht der Student, den Roland glaubte vor sich zu haben. Es war der Direktor. Roland, leichenblaß vor Scham, entschuldigte sich sofort, und die Sache schien gegessen. Die Verwechselung wurde begünstigt, weil die meisten Studenten Uniformen trugen, einige sogar mit hohen Rangabzeichen. Auch der Direktor und der überwiegende Teil der Dozenten, soweit sie Eisenbahner waren, mußten Uniform tragen. Auch Militärangehörige bis zum Major waren Studenten - und alle in Uniform. Die Uniformen waren rein äußerlich gesehen alle ähnlich, so daß eine Verwechselung leicht möglich war.

Schon am nächsten Morgen war Roland exmatrikuliert!

Daß dieser Rempler Folgen haben würde, war uns allen klar. Aber so drastisch!?

So suchten alle Studenten der 7 ID 3 nach einer Lösung des Problems, und die mußte ebenso drastisch sein, wie es der Vorfall war, sonst wäre der Direks wohl nicht zu überzeugen.

Wir schlugen deshalb vor, daß Roland, um die schwere Arbeit der Kumpel unter Tage kennen zu lernen, solidarisch eine zeitlang in der Zwickauer Grube gemeinsam mit den Kumpeln unter Tage arbeiten soll.

Als Klassensprecher hatte ich nun die nicht gerade leichte Aufgabe, dem Direks unseren Vorschlag schmackhaft zu machen. Wir wollten nicht, daß Roland auf diese Weise rausgeworfen wird.

Er stimmte zu, machte aber zur Bedingung, daß der Einsatz über 3 Monate gehen muß. Das war ein Erfolg, wenn auch nur ein Teilerfolg, denn 1/4 Jahr aus dem Direktstdium herauszufallen, kam einer Exmatrikulation fast gleich.

Was war zu tun? Oder was konnten wir tun?

Wir verständigten uns darauf, daß das gesamte Studienmaterial und der vermittelte Lehrstoff einmal wöchentlich mit der Post nach Zwickau geschickt werden soll, damit Roland dort nach Feierabend quasi weiterstudieren konnte. Dazu mußte abwechseld jeder mit einem Blaubogen eine Durchschrift seiner Mitschriften anfertigen, und ab ging die Post.

Roland blieb uns erhalten.

August 1961

Das zweite Studienjahr war erfolgreich abgeschlossen. Es war Ferienzeit, und ich wollte heiraten. Meine Frau hatte ich auf der Heimfahrt im D-Zug von Erfurt nach Berlin kennengelernt. Sie kam aus Zeitz in Sachsen Anhalt und suchte in Halle einen Platz im überfüllten D-Zug nach Berlin. Und wir Studenten hingen aus den Fenstern und schauten nach jungen Mädchen, denen wir Plätze anbieten konnten. Als Eisenbahner wußten wir natürlich, wie man einen Platz bekommt. Die hatten wir vorsorglich immer schon ab Erfurt reserviert.

Auf einer dieser Heimfahrten hatte es dann gefunkt, und ich wollte unbedingt ihre Adresse erfahren. Da kam mir der Zufall zur Hilfe. In Schönefeld bei Berlin wurden alle Züge nach Berlin kontrolliert. Und da wurden die aufgeschlagenen Personalausweise an die kontrollierenden Vopos (Volkspolizisten) rübergereicht. Ich fotografierte mit Blicken alle Angaben im Ausweis meiner Auserwählten. Nach der Kontrolle mußte ich dann dringend auf die Toilette, um alles zu notieren und um ja nichts zu vergessen.

Die Mauer

Die Hochzeit sollte Mitte August in Zeitz bei meinen zukünftigen Schwiegereltern stattfinden. Die Einreise meiner Eltern aus Westberlin wurde jedoch nicht genehmigt. So entschlossen wir uns zu zwei Hochzeitsfeiern. Deshalb fand der Polterabend schon am Donnerstag, den 10. August 1961 in Zeitz statt.
Am Freitag, den 11. August 1961 heirateten wir in Abwesenheit meiner Eltern im Standesamt in Zeitz. Am nächsten Tag fuhren wir mit der Bahn heimlich nach Berlin-Spandau in West-Berlin und feierten dort den zweiten Teil der Hochzeit. Heimlich deshalb, weil ich als Student nicht nach West-Berlin durfte. Wäre das herausgekommen, wäre ich von der Ingenieurschule geflogen.

Als jung vermähltes Paar wollten wir natürlich unter uns sein und fuhren mit der letzten S-Bahn von Spandau zum Grenzübergang Staaken und von dort mit dem Bummelzug die eine Station bis nach Dallgow. Von den Hochzeitsgeschenken nahmenn wir nur den Eßbesteck-Kasten mit, denn wir wollten am nächsten Morgen wieder zum Frühstück in Spandau bei meinen Eltern sein. Und dann hätten wir die anderen Geschenke mitgenommen.

Der nächste Morgen war aber Sonntag, der 13. August 1961. Gegen 8 Uhr schaute ich aus dem Fenster hinüber zum gegenüberliegenden Bahnsteig. Wir wohnten keine 50 Meter vom Bahnhof entfernt. Üblicherweise war um diese Zeit der Bahnsteig schwarz voller Reisender, die in Richtung West-Berlin fahren wollten. Heute aber war niemand zu sehen, und ich dachte, der Zug ist schon weg. Er kam aber, und wir waren die einzigen Reisenden im Zug nach Staaken! Alle hatten die Meldungen im Radio gehört, nur wir nicht. Wir hatten ja gerade geheiratet.

Auf dem Bahnsteig in Berlin-Staaken (Ost) stiegen wir aus dem Zug und wollten wie immer durch die Kontrolle nach West-Berlin. Plötzlich standen wie aus dem Nichts 2 Volksarmisten mit auf uns gerichteter Maschinenpistole vor uns. Einer fragte, wohin wir wollten. Ich antwortete, nach Spandau und zeigte in Richtung West-Berlin. Aber der gute Mann war ein Sachse und wußte gar nicht, wer oder was Spandau ist. Der andere zeigte in die entgengesetzte Richtung und sagte, da geht es nach Spandau. Ich wußte es besser, aber Gewalt geht vor Recht, und ich schwieg.

Wir durften uns noch ein Plakat ansehen, auf dem mit riesigen Lettern etwas von geschlossener Grenze stand, dann durften wir mit sanfter Gewalt wieder in den Zug einsteigen, mit dem wir gekommen waren. Meine Eltern warteten in Spandau vergeblich mit dem Frühstück auf uns.

Tante Otti blieb noch eine Woche bei meinen Eltern in Spandau, als klar war, daß die Grenze geschlossen war. Zurück fuhr sie über den Grenzübergang Heerstraße an der F5, heute B5. Weil sie uns nicht verständigen konnte, nahm sie vorsichtshalber ein Brot mit, falls wir nicht genug im Hause haben sollten.

An der Grenze fragte man sie, wo sie mit dem Brot unter dem Arm hin will.

Ihre schlagfertige Antwort:

"Denken sie etwa, ich fahre in den Osten, ohne mir was zu essen mitzunehmen?"
So war sie. Mit ihren 85 Jahren hatte sie auch nichts zu befürchten.
Als sie bei der Zollabfertigung an der Grenze einmal gefragt wurde, ab sie Westgeld mitführt, hat sie geantwortet: "Selbstverständlich!", wohlwissend, daß das verboten war. Als sie das Geld herausgeben sollte, fand sie es erst nach absichtlich langem Suchen. Es waren 6 Pfennige.

West-Berlin war eingemauert. Was niemand bis dahin glauben wollte, es war geschehen. Tausende müssen es aber gewußt haben, denn wie anders ist es zu erklären, daß sich in den letzten Wochen zuvor die Zahl der Flüchtlinge fast verdreifacht hatte.

Kurios, der Bau der Mauer hatte für mich einen Vorteil. Mein Stipendium war jetzt sicher. Ich mußte nun auch nicht mehr garantieren, daß ich nicht nach dem Studium die DDR verlassen würde. "Republikflucht" war plötzlich kein Thema mehr.

 

Das Studium in Gotha neigte sich seinem Ende zu

Die meisten Absolventen sollten in den Dispatcherdient übernommen werden. Ich natürlich nicht - wegen meiner Westverwandtschaft! Für mich kam deshalb nur die Tätigkeit als Dienstvorsteher oder Vertreter auf einem mittelgroßen Bahnhof infrage. Und so landete ich gegen meinem Willen als Vertreter des Dienstvorstehers auf dem Bahnhof Nauen. Als ich mich dort zum ersten Dienstantritt melden wollte, staunte ich nicht schlecht. Dort saß KPS (Spitzname für Klaus Peter S.) oder auch Schocker genannt. Er war bei der Abschlußprüfung mit Pauken und Trompeten durchgerasselt. An der Ingenieurschule ging der Spruch rum, "Ist grün und springt von Nutte zu Nutte. Was ist das?" Die Antwort war immer die gleiche: "Das ist Schocker im Lodenmantel". Er war keinesfalls dumm, nur hatte er nie Zeit. Die verbrachte er meistens mit jungen Frauen.

Als wir gemeinsam im D-Zug von Berlin nach Erfurt unterwegs waren, gab er mir seine Ingenieur-Hausarbeit zur Durchsicht und fragte mich, ob er damit wohl durchkommt. Ich schüttelte den Kopf. Und tatsächlich flog er durch die Prüfung. Dadurch war er bereits 4 Wochen vor mir auf dem Bahnhof Nauen angekommen und wurde als Sachbearbeiter Betrieb beschäftigt. Als ich ihn wiedertraf, fragte er mich scheinheilig, ob ich wüßte, warum ich in Nauen anfangen "durfte". Nein, das wußte ich natürlich nicht.

"Weil ich meine Hausarbeit wiederholen muß!", erhielt ich zur Antwort.

Der gute SED-Genosse hatte tatsächlich Kraft seiner SED-Beziehungen erreicht, das auch ich zum Bahnhof Nauen "durfte"! Seine neue Abschlußarbeit sollte die Anfertigung des Bahnhofsbuches für den Bahnhof Nauen sein. Und ich sollte ihm dabei helfen!!! Weil das Bahnhofsbuch auch brauchbar sein solle, half ich ihm tatsächlich und schrieb es in großen Teilen selbst. Sogar den Bahnhofsplan zeichnete ich. Und so erhielt KPS - wenn auch verspätet und mit Schiebung sein Diplom. Die Partei hatte ihn nicht im Stich gelassen.
Die Hilfe war nicht ganz uneigennützlich, denn das Bahnhofsbuch mußte sowieso neu verfaßt werden. Und das wäre mit Sicherheit meine Aufgabe geworden.

 

So wurde ich Dienstvorsteher-Vertreter auf dem Bahnhof Nauen

Mein Vorgesetzter war der Dienstvorsteher Heinrich F. Der wollte mich im Bahnhofsbüro aber nicht haben, denn er schickte mich sogleich zum Befehlsstellwerk Nau unter dem Vorwand, ich solle den Bahnhof kennenlernen.

Auf dem Befehlsstellwerk Nau waren neben dem Fahrdienstleiter ein Stellwerkswärter und ein Zugmelder beschäftigt. Zunächst hatte der Fahrdienstleiter wohl geglaubt, ich soll auf dem Stellwerk ausgebildet werden, obwohl augenscheinlich dafür zurzeit gar kein Bedarf bestand. Neugierig versuchte er mich auszuforschen. Als ihm klar wurde, daß ich wohl der neue Vertreter bin, ging er zu seinem Umkleideschrank, holte zwei Flaschen Bier hervor und wollte mit mir anstoßen.

Daraufhin fragte ich ihn, ob er einen Satz mit Herz wüßte.

Wußte er nicht! Und so antwortete ich für ihn: "Mir scheiß(H)erts!"
Dann ging ich zum Klo. Als ich zurückam, war das Bier wieder im Schrank und die Welt war wieder heil.

Wir haben nie wieder darüber gesprochen. Dennoch wußte es bald der ganze Bahnhof. Und das war auch gut so. Alkohol im Dienst war mit mir nicht zu machen. Und er hat dafür gesorgt, daß nun alle meinen Standpunkt zum Alkohol im Dienst kannten.

Ein halbes Jahr später wurde der Dienstvorsteher F. strafversetzt. Seine Frau hatte das veranlaßt, damit er nicht mehr mit seiner Sekretärin....... Na, sie wissen schon....

Ich bekam ein Schreiben des Amtsvorstandes, daß ich ab sofort mit meinem Einverständnis Dienstvorsteher des Bahnhofs Nauen bin. Nach meinem Einverständnis bin allerdings nie gefragt worden. Das hatte man wohl vorausgesetzt. Aber immerhin erhöhte sich nun mein Gehalt um gut 10 % von von 600,-- auf 680,-- Mark der Deutschen Notenbank. Die Kollegen auf den Stellwerken erhielten durch Schichtdienst und Bahnhofsprämien wesentlich mehr, obwohl ihre wöchentliche Arbeitszeit deutlich kürzer war.

Die DDR gab sich gern als Arbeiter- und Bauernstaat aus, und das drückte sich vielfach in einer unterschiedlichen Entlohnung aus.

 

Kontrolleur für Betriebssicherheit im Reichsbahnamt

Anfang 1965 wurde im Reichsbahnamt die Stelle des Betriebskontrolleurs frei, weil der Bktr B. in Rente wollte. Er hatte schon 2 Jahre länger gemacht und wollte nun wirklich nicht mehr, obwohl man dann als Rentner in der DDR erst richtig gut verdiente. Wohlgemerkt, die Rente mit 67 gab es damals noch nicht! Dennoch arbeiteten manche sogar noch mit 70, zum Beispiel der Lokführer "Kistenkarl" vom Bahnbetriebswerk Wustermark.

Jedenfalls suchte der Bktr B. nach einem Nachfolger. Man konnte ja nicht einfach aufhören ohne einen Nachfolger zu besorgen. Er wußte, daß mir die tägliche Fahrzeit nach Nauen von einer Stunde für nur knapp 20 km auf Dauer nicht gefiel und sprach mich an. So bewarb ich mich beim Reichsbahnamt. Und ein viertel Jahr später war alles perfekt. Nun betrug die Zeit zur Arbeit nur noch 5 Minuten! Wie das?? Von der Wohnung zum Bahnhof waren es nur 5 Minuten Fußweg. Und weil der Bahnhof Dallgow (bei Berlin) zu meinem Kontrollbezirk gehörte, war ich sofort auf meinem Areitsplatz und damit im Dienst. So sparte ich täglich 2 Stunden! Und wenn ich montags zur Besprechung ins Reichsbahnamt mußte, war das auch nur eine Station mit der Bahn.

Der scheidende Bktr B. wies mich überrall gründlich ein, und er lieh mir auch alle seine selbstgefertigten Bahnhofsskizzen zum Abzeichnen. Das war ein dickes aber handliches kleines Heftchen in Postkartengröße. So lernte ich meinen gesamten Kontrollbezirk, seine Besonderheiten und die Menschen in kurzer Zeit kennen.

Auf der Nebenbahn nach Basdorf (eigentlich unwichtg!) gab es eine besonders gründliche Einweisung. Denn in dort begannen an einer Halbschranke auf freier Strecke die sogenannten Staatssonderfahrten für Ulbricht. Der fuhr damals sehr häufig nicht mehr mit dem Auto sondern mit dem Salonwagenzug, auch weil er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr fliegen durfte, hieß es.

Ende November 1967 gab es im Reichsbahnamt Berlin 3 in Wustermark eine kurzfristig angesagte wichtige Betriebsversammlung. Man teilte uns mit, daß das Reichsbahnamt am Ende des Jahres aufgelöst wird. Das war ein Weihnachtsgeschenk! Eine Überraschung zum Heulen! Die Stimmung war wirklich zum Heulen. Aber der Arbeiter- und Bauerstaat läßt ja keinen im Stich. Die meisten kamen günstig auf anderen Dienstposten unter, andere waren bereits Renter und mußten sich keine Sorgen machen. Für mich gab es nur eine Alternative: Zum Reichsbahnamt Berlin 2 nach Potsdam.

Mit der Auflösung das Rba 3 wurde durch Zusammenlegungen das Rba 2 so groß, daß dort ein zweiter Kontrollbereich eingerichtet werden mußte. Von dem Aufgabengebiet her hatte sich für mich nicht viel geändert. Ich behielt meinen alten Kontrollbereich. Nur mein Chef war ein anderer und saß in Potsdam. Dumm war nur, daß ich immer montags zur Kontrolleursbesprechung nach Potsdam mußte. Und die Züge fuhren nur im 2-Stundentakt!

Regelmäßig einmal im Monat hieß es für mich (nicht freiwillg!) "Bei der Partei zu Gast". Man wollte mich zum Eintritt in die Partei der Arbeiterklasse bewegen oder besser gesagt überreden. Monat für Monat das gleiche, und immer wieder nach neuen Ausreden suchen zu müssen. Es kotzte mich an (Entschuldigung). Dann bahnte sich eine Lösung an:

Ein aus meiner Sicht zuverlässiger SED-Genosse kannte mein Problem und meinte, es gäbe für mich nur zwei Möglichkeiten aus diesem Karussel herauszukommen. Die eine Möglichkeit sei die Unvereinbarkeit mit meinem kirchlichen Glauben. Das aber würden sie (SED) mit Sicherheit nachprüfen und deshalb würde das vermutlich nicht funktionieren.

Bleibt nur die andere Möglichkeit: Deine Ehe leidet darunter und droht zu zerbrechen. Das haben sie bisher immer akzeptiert. Aber besprich das vorher mit deiner Frau.

Es hat geklappt. Ich brauchte nicht mehr bei der Partei zu Gast sein.

Irgendwie hatte ich aber später den Eindruck, daß ich schikaniert wurde. Man wußte, wann mein Heimatzug fuhr. Und nun verpaßte ich den immer öfter. Die Beratungen endeten häufig erst, wenn mein Zug bereits weg war. Und der nächste Zug fuhr erst in 2 Stunden! Zufall???

Das Reichsbahnamt bekommt einen neuen Betriebsleiter. Der war bislang Amtsvorstand im Reichsbahnamt Frankfurt Oder, und in Potsdam war er nur Zweiter. Ein ziemlich glaubwürdiges Gerücht war in aller Munde. Er sei über einen Minirock gestolpert und vor Ort mit der Sekretärin erwischt worden! Er wurde deshalb zu uns nach Potsdam strafversetzt und sollte sich hier als Genosse bewähren.

Aber wie macht man das? Ganz einfach: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bild' ich einen Arbeitskreis. Und das tat er dann auch. Einer nach dem anderen mußte in seine Truppe. Zunächst freute ich mich, denn der Kelch schien an mir vorbeizugehen. Aber das lag wohl eher daran, das ich als Kontrolleur nur einmal in der Woche im Haus war. Bis ich in meiner Dienstpost den Auftrag fand, eine ergonomische Untersuchung für den gesamten Amtsbezirk durchzuführen. Um ehrlich zu sein, ich wußte erst gar nicht was ich da machen sollte.

Am Ende stellte sich heraus, daß ich Eisenbahner, die Unfälle verursacht hatten, zu Hause besuchen sollte. Dort sollte ich herauskriegen, ob sie WEST-FERNSEHEN gucken.

Und wie soll ich das anstellen?

Na, ja. Sie werden ja nicht in der Küche sitzen, vermutlich doch im Wohnzimmer. Und da steht meistens auch der Fernseher. Da gucken sie einfach mal auf den Kanalwähler. Ich muß wohl etwas dümmlich geguckt haben, jedenfalls gab er mir den Tipp zu fragen, ob ich einen Kaffee bekommen könnte. Das lehnt kaum einer ab. Und sie haben genügend Zeit, nach dem Kanalwähler zu schauen.

Ich habe nicht weiter gefragt. Mir war klar, daß zwischen Unfällen und Westfernsehen ein Zusammenhang hergestellt werden sollte. Der Klassenfeind im Westen sollte also der Schuldige sein, wenn im Osten ein Zug entgleiste.

Den Auftrag konnte ich zum Glück auf meine Weise erledigen. Ich ging auch in keine Wohnung. Ich machte einfach eine anonyme schriftliche Umfrage im ganzen Bezirk. Den gewünschten Zusammenhang konnte ich leider nicht erbringen. Außerdem wurde die Zeit für solche zusätzlichen Aufgaben knapp. Ein anderes viel wichtigeres Ereignas warf seine Schatten voraus.

Der Prager Frühling

kam dazwischen, und die Reichsbahn mußte klammheimlich mobilmachen. Im August 1968 wurde die Gruppe Betriebstechnik des Reichsbahnamtes Berlin 2 sogar im Schichtdienst besetzt. Jeder rechnete mit dem unmittelbar bevorstehenden Einsatz der Volksarmee in der Tschechoslovakei. Und in dieser äußerst angespannten Situation kam der Betriebsleiter (der über den Minirock Gestolperte) und erzählte uns einen makabren Witz:

Ein Soldat der Volksarmee ist in Prag eingesetzt und schreibt einen Brief an seine Mutter:

"Liebe Mutter.
Ich habe schon 2 Aufrührer erschossen. Mein Kommandeur ist sehr stolz auf mich.
Und wenn ich so weitermache, nimmt er mich nächstes Jahr mit nach Rumänien".

Niemand traute sich zu lachen. Kein Wunder! War doch zur gleichen Zeit Rumänium auf der Seite der "Aufständischen" und wäre wohl das nächste Opfer gewesen. Dieser Witz kam gar nicht gut an, zumal keiner wußte, was der Betriebsleiter damit bezweckte. Keiner konnte sicher sein, ob nicht nur seine Einstellung ausgeforscht werden sollte.

Um die Lage zu entschärfen, forderte er uns auf: "Ihr könnt ruhig lachen". Niemand lachte.

 

Staatsfahrten

Ulbricht residierte bekannterweise in einer gut gesicherten eigenen Wohnstadt im Wald bei Wandlitz. Aus gesundheitlichen Gründen durfte er nicht mehr fliegen. Und so kam immer öfter der in Berlin-Lichtenberg stationierte Staatssonderzug zum Einsatz. Der hielt nicht an einem Bahnsteig wie ein gewöhnlicher Reisezug. Der hielt immer an der Halbschranke in Wandlitz, auf freier Strecke. Dort wurde ein Treppchen an den Zug gestellt, und Ulbricht samt Begleitschutz stiegen in den Zug ein.

Als zuständiger Kontrolleur für Betriebssicherheit war ich für den kurzen Streckenabschnitt von Berlin-Karow bis Basdorf zuständig. 24 Stunden vor der Durchführung einer solchen Fahrt mußte ich ggf. auch nachts alle beteiligten Betriebsposten kontrollieren. Dazu fuhr ich mit meiner ES 150 von Dienstposten zu Dienstposten. Nachdem ich beim ersten durch war, meldete der mich natürlich gleich weiter vor und warnte alle folgenden Betetriebsdienstposten. Der "Vorblock" klappte immer sehr gut.

Da die Zeit für diese Kontrollen sehr knapp bemessen war, konnte ich nur routinemäßig arbeiten. Also, immer das gleiche Spielchen: Alle Plomben dran, keine Störungen vorhanden, Zählwerke und Signalmittel in Ordnung, Signalbeleuchtung in Ordnung usw.

Zu den Signalmitteln gehörten neben einer nicht aufgerollten Flagge und dem Signalhorn auch rot abgeblendete Petroleumlampen. Ob die ordnungsgemäß befüllt waren, prüfte ich immer nur durch Schütteln der Lampe. Das wußten alle Betriebseisenbahner. Es war ja immer und immer wieder der gleiche Ablauf.

Aber einmal hatte ich etwas mehr Zeit und prüfte gründlicher. Und da kam ich doch auf die perfide Idee und wollte eine Lampe einfach mal anstecken. Als der Fahrdienstleiter (in Schönerlinde war das) dies mitbekam, sagte er zu mir: "DIE BRENNT NICHT!".

Wieso???
Da ist nur WASSER DRIN!

Nein, wie kommt denn da Wasser rein?

Und dann räumütig: "Ich wußte doch, daß sie immer schütteln, und weil kein Petroleum da war, habe ich einfach schnell Wasser reingegossen."

Ha, ha. Das schlaue Kerlchen hatte nicht damit gerechnet, daß ich die Lampe mal brennen sehen wollte.
Und das kurz vor einer Staatssonderfahrt!

Der so Erwischte hatte wohl schon weiche Knie bekommen. Das reichte, eine Belehrung war nicht mehr vonnöten, zumal er gleich nach Feierabend sich persönlich in seiner Freizeit darum kümmern wollte, daß alles wieder in Ordnung kommt. Ein Kontrollauftrag an seinen Chef erübrigte sich. Auch eine Nachkontrolle habe ich nicht veranlaßt. Ich war mir sicher, er hat's erledigt, was mir am nächsten Tag noch vor der Staatsfahrt durch eine Anruf seines Kollegen bestätigt wurde. Salopp gesagt, er hatte die Hosen voll. Sonst hätte ihn wohl der Teufel geholt, in diesem Fall der Stasi.

Bei einer Staatsfahrt werden alle befahrenen Weichen mit Weichenschloß und Zngensperre gegen versehentliches oder absichtliches Umstellen verschlossen. Bei von der Spitze befahrenen Weichen werden immer beide Zungen verschlossen, die anliegende Zunge mit einem Weichenschloß und die abliegende Zunge mit einer Zungensperre. Stumpf (von hinten) befahrene Weichen werden nur mit dem Weichenschloß gesichert. Auch nicht befahrene Weichen werden in abweisender Stellung verschlossen, wenn sie im Nachbargleis liegen und die Staatsfahrt durch eine Flankenfaht gefährden könnten.

Auch alle Bahnübergänge, egal ob beschrankt, mit Halbschranke gesichert oder unbeschrankt wurden beidseitig durch Eisenbahner und Polizeikräfte gesichert. Natürlich ist auch auf jedem Stellwerk ein Überwacher. Eisenbahn- und Straßenbrücken wurden ebenso bewacht wie auch die gesamte zu befahrende Strecke. Die bahntechnische Sicherung erfolgte durch vorher vergatterte Eisenbahner. Die Vergatterung erfolgte im Stuhlraum des Bahnhofs Berlin Ostbahnhof in mehreren Schüben erst wenige Stunden vor der Zugfahrt. Die Beteiligten wurden danach mit einem Sonderzug (Triebwagen) direkt zu ihren Posten gefahren und durften diesen erst nach Beendigung der Staatsfahrt verlassen. Sie wurden von einem Sonderzug wieder eingesammelt und zurück nach Berlin Ostbahnhof gebracht.

Die Staatsfahrt bestand immer aus 3 Sonderzügen, Vorzug, Hauptzug und Nachzug. Die Züge fuhren im Zeitabstand von 15 Minuten. Der Vorzug war eine Art "Mienensucher". Im letzten Wagen des Vorzuges beobachteten immer 2 Gleisbaufachleute - einer war der zuständige Oberbaukontrolleur - das soeben befahrene Gleis und achteten auf Unregelmäßigkeiten, die den folgenden Hauptzug hätten gefährden können.

Zwischen dem Vor- und dem 15 Minuten später folgenden Hauptzug durften geschlossene Schranken nicht wieder geöffnet werden. Das gab oft Ärger mit den lange im Stau stehenden Autofahrern, zumal die ebenfalls anwesenden Polizeikräfte immer dann in Deckung gingen, wenn sich die Züge näherten. Sie durften vom Zug aus nicht sichtbar sein! Zwischen Hauptzug und Nachzug durften die Schanken kurzzeitig geöffnet werden, wovon aber selten Gebrauch gemacht wurde.

Zählen wir mal die Zug- und sonstigen Fahrten:

Gleismeßwagenfahrt, Fahrten zur Beseitigung festgestellter Mängel am Gleis, Fahrten zum Verteilen der Weichenschlösser und Zungensperren, Zug zum Ausbringen der Sicherungskräfte, Vorzug, Hauptzug, Nachzug, Zug zum Einsammeln der Sicherungskräfte.

Das sind im Minimum 8 Zugfahrten, und das gleiche wieder bei der Rückfahrt. Ein immenser Aufwand!

Aber dafür gab es Ulbricht im Zug immer zweimal, und immer hinter einem Neuen Deutschland versteckt.
Die Angst fuhr wohl immer mit.

Als der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin Anfang der 60er Jahre im Staatssonderzug durch die DDR reiste, war auch der Bahnhof Nauen davon betroffen. Als Leiter des Bahnhofs (früher hießen wir noch Dienstvorsteher) bekam ich einen verschlossenen Umschlag, den ich erst um 8:20 Uhr öffnen durfte. Er enthielt alle Anweisungen für die Durchführung dieser Staatsfahrt auf dem Bahnhof Nauen. Es war damals meine erste Staatsfahrt, und ich wollte wissen, was mich nach dem Öffnen des Umschlages erwartete. Den Brief vorher zu öffnen, war sehr gefährlich, denn mit einem Sondertriebwagen waren zuvor viele hochrangige Eisenbahner, Polizisten und Zivilisten angereist. Die meisten hatten es sich in meinem Büro gemütlich gemacht.

So bestieg ich kuzerhand den leeren Triebwagen und wies den Triebwagenführer an, mich auf einem Kehrgleis in Richtung Stellwerk Nwt am Ended des Bahnhofs zu fahren. Dort würden mich die Bewacher nicht erreichen. Daß keiner anderer im Zug war, davon hatte ich mich zuvor überzeugt.

Ich öffnete den Umschlag vor der Zeit und kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Neben einer Unzahl von Anweisungen waren auch alle Nachbargleise von Eisenbahnfahrzeugen zu räumen. Hätte der Bahnhof nicht über eine eigene Rangierlokomotive verfügt, wäre diese Auflage gar nicht ausführbar gewesen. Ein ganzer Personenzug und einige Güterwagen mußten so schnell wie möglich weg, aber wohin???

Ich ließ sie auf das Streckengleis der Nebenbahn in Richtung Kremmen schieben und wurde damit auf dem allerletzten Drücker fertig. Schließlich und endlich mußten ja auch noch alle Weichen verschlossen werden. Die Schlösser waren zwar alle angebracht, aber die Schlüssel mußten alle zu mir. Am Ende hat es gerade noch geklappt, aber auch nur, weil ich gegen die Weisung 8 Uhr 20 verstoßen hatte.

Hier gibt es den Gleisplan des Bahnhofs zu sehen, und man hat eine Vorstellung, wie viele Weichen im befahrenen und in den Nachbargleisen verschlossen werden mußten.

Übrigens:

Die SED-Kreisleitung hatte in Unkenntnis der Sachlage die Bürger der Stadt aufgerufen, dem Kosmonauten zuzuwinken. Der aber war gar nicht zu sehen, fuhr getarnt wie Walterchen auch immer. Hunderte enttäuschter Schaulustiger waren wütend auf die SED-Leute, die wieder einmal nichts wußten.

Gagarin brauste zum Ärger der Schaulustigen hinter zugezogenen Vorhängen an ihnen vorbei!

 

In der "Honecker-Zeit" waren Staatsfahrten

mit dem Salonwagenzug nicht mehr so häufig wie bei seinem Vorgänger Ulbricht. Aber mit schöner Regelmäßigkeit fand eine Staatsfahrt immer im Januar zum Neujahrsempfang der Diplomaten statt. Ich mußte dann meistens nach Diedersdorf auf dem Südlichen Berliner Außenring. Während ich bei früheren Einsätzen sofort den mir zugewiesenen Bereich überprüfte, habe ich es einmal wegen starken Regens unterlassen. Und die Strafe folgte auf dem Fuße. Als ich später die Weichen verschließen wollte, fehlten alle Schlösser an den Weichen, so daß die erforderliche Weichensicherung nicht möglich war. Mir blieb nicht anderes übrig: Ich mußte sofort den Einsatzstab informieren.

Es dauerte nicht lange und ich bekam aus dem benachbarten Wald Besuch. Zivilisten, mit Sicherheit Stasi-Leute! Da kann ja jeder kommen, dachte ich und sagte meine Parole, die sie mit der Antwort-Parole hätten beantworten müssen. Das konnten sie nicht, denn sie hatten nicht die gleichen Parolen wie wir Eisenbahner. Obwohl ich sicher war, daß sie zu mir geschickt wurden, gab ich ihnen keine Auskunft. Es dauerte nicht lange und ein Eisenbahner der zuständigen Signalmeisterei erschien vor Ort. Der zeigte mir, daß die Weichenschlösser an den Weichen sehr wohl angebracht waren, allerdings an den Weichen für die Rückfahrt, wo ich natürlich gar nicht gesucht hatte. Schließlich sollte jetzt erst einmal die Hinfahrt gesichert werden, die Rückfahrt in 2 Tagen. Der gute Mann hatte sich geirrt und mußte nun in aller Eile die Schlösser umsetzen.

Derweil suchten die "Zivilisten in Ledermänteln" die Bahngräben ab. Sie hatten wohl den Verdacht, daß ein Staatsfeind die Schlösser demontiert und in den Bahngraben geworfen haben könnte. Sie suchten vergeblich.

Der Hauptzug war gerade durchgefahren und schon waren die lästigen Zivilisten wieder da und wollten mich festnehmen. Weil der Nachzug noch zu sichern war, habe ich zunächst mit Erfolg widersprochen. Auch durfte ich die Weichen wieder aufschließen, weil ansonsten der Regelverkehr stark behindert worden wäre.

Dann mußte ich mit zum stundenlangen Verhör. Als endlich klar wurde, daß ich unschuldig war, durfte ich gehen. Und wie komme ich jetzt mitten in der Nacht über 30 km nach Hause???

Tatsächlich hatten sie ein Einsehen und fuhren mich mit ihrem Pkw nach Hause, sogar bis vor die Haustür. Sind doch nett, die Leute vom Konsum, oder???

 

Kontakt mit dem Staatssicherheitsdienst

Als ich in Borgwalde mit dem ehemaligen Tiefbau-Ingenieur des Bauvorhabens Grenzbahnhof Staaken Pfefferlinge suchen wollte, hatte ich dies auf dem Bahnhof Nauen vorher meinem Chef angekündigt, weil ich dann kurzfristig mal einen Tag Urlaub nehmen würde. Der Informelle Mitarbeiter (IM) "Walter" des Staatssicherheitsdienstes hatte dies seinem Führungsoffizier gemeldet und dabei behauptet, daß das Pilzesuchen nur ein Vorwand sei. In Wirklichkeit würde ich in Borgwalde Flugbewegungen beobachten wollen.

In meinem Dienstzimmer im Bahnhofsbüro Nauen arbeitete ein Walter als Betriebssachbearbeiter, zu dem ich ein gutes kollegiales Verhältnis hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Stasi so naiv war und den Vornamen seiner Spitzel als Decknamen benutzte. Aber wer weiß das schon?

Walter machte im Dienst gerne Kreuzgitter. Ab und zu wurde er dabei auch erwischt und beim Chef verpfiffen. Die "Petzer vom Dienst" kannten aber nicht den feinen Unterschied zwischen einem Kreuzgitter und einem Kreuzworträtsel. Als der Chef ihn einmal wegen der Rätselei zur Rede stellte, fragte mich Walter:

"Mache ich im Dienst Kreuzworträsel?"

"Nein, das habe ich noch nie gesehen." Er machte ja nur Kreuzgitter. Die waren besonders knifflig, denn beim Kreuzgitterrätsel muß der Ratende nämlich selbst kombinieren, wo er die Lösung eintragen muß. Alles andere war für Walter viel zu leicht.

Von der Kaderleiterin des Bahnhofs Nauen war hinreichend bekannt, daß sie für den Stasi Spitzeldienste leistete. Unter 4 Augen hatte sie sich mal ungefragt geoutet. Warum sich ein Spitzel in dieser Weise zu erkennen gab, ist mir allerdings rätselhaft.

In dem folgenden Bericht stellt selbst der STASI fest, daß es sich im vorliegenden Fall um eine Falschmeldung handelt.

In Borgwalde gäbe es gar keine Flugbewegungen. Dort gibt es lediglich Raketenstellungen der NVA.
Offensichtlich wollte mir ein "lieber Kollege" des Bahnhofs Nauen (IM Walter) Schaden zufügen.

Hier die Wertung des STASI aus der Kopie BStU 000026:

Wertung:
bedingt durch die Info, daß der Sohn der OP-Prs. in Borgwalde Flugzeuge fotografiert haben soll, wurde über die KD Belzig diesbezüglich recherchiert.
Dabei wurde sichtbar, daß in diesem Bereich keine Flugzeuge (milit.od. zivile) stationiert sind, bzw.landen u. starten.
In diesem Bereich sind lediglich Raketenstellungen der NVA.

bedingt durch den Entschluß der OPK, bestätigt die zuletzt getroffene Einschätzung zur Leidenschaft der OPK-Person, dem Sammeln von Pilzen, die im Abschlußbericht getroffene Einschätzung zum Sachverhalt (Ausg. Info "Walter" 6/83)

Dadurch, daß die OPK-Pers. im Verantwortungsbereich der DE verbleibt, sind die Einschätzungen bezüglich der Reisetätigkeit weiterhin zu beachten.
F.Ü. der OPK- Person

unleserliche Unterschrift